BÉTON BLEU MAGAZINE
 

Béton Bleu Essays

Interdisciplinary reflections on art, cultural policy and activism in Europe


 
Image via Théo Vardin, OIL Painting

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DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION WIRD (AUCH) IM KULTURSEKTOR ENTSCHIEDEN

Die Covid-Pandemie stürzt die Kultur- und Kreativszene in Europa in eine existenzielle Krise. Eine zukunftsgerichtete europäische Integrationspolitik muss jetzt strategisch reagieren – und in ihre Kultur Governance investieren.

Ein Essay von Ana-Marija Cvitic


 
 
Image via Théo Vardin, OIL Painting

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HOW STRATEGIC CULTURAL POLICY CAN FOSTER EUROPEAN INTEGRATION

The Covid-19 pandemic plunges the cultural and creative scene in Europe into an existential crisis. The European Union should act strategically - and invest in its cultural governance.

An essay by Ana-Marija Cvitic


 
 
 

Kick-Off der Béton Bleu Essay-Reihe:

Die Integration Europas wird (auch) im Kultursektor entschieden

Die Covid-Pandemie stürzt die Kultur- und Kreativszene in Europa in eine existenzielle Krise. Eine zukunftsgerichtete europäische Integrationspolitik sollte daher strategisch reagieren – und in ihre Kultur Governance investieren.

Ein Essay von Ana-Marija Cvitic

Image via Théo Vardin, Oil Painting

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Die politische Integration der Europäischen Union ist ein kultureller Prozess, der im alltäglichen Handeln der Akteur*innen geschieht – so lautet das bekannte kulturanthropologische Narrativ. Diese „Europäisierung des Alltags“ wird von der Kultur- und Kreativszene in Europa kollektiv intellektuell verarbeitet – denn schließlich bedeutet politische Integration, jederzeit ethische und ästhetische Grundbegriffe von Geschmack, Normen, Geschichtsbewusstsein zu verhandeln.

Nun wurde lange nicht mehr in Europa mit solch einer Wucht darüber debattiert, welche Rolle Kunst und Kultur in der Gesellschaft zukommen, wie in der Covid19-Pandemie. Ist Kultur „systemrelevant“ und lässt man ihre Institutionen folgerichtig auch im Lockdown zugänglich? Oder verortet sie der Staat eher bei der Unterhaltungsindustrie und macht sie damit in Krisenzeiten entbehrlich?

Die 27 europäischen Mitgliedstaaten finden darauf individuelle Antworten; die Europäische Union als Gemeinschaft noch nicht. Staaten wie Bulgarien, die Niederlande, Italien, Spanien oder Dänemark differenzierten während der zweiten Covid19-Welle die Maßnahmen, die den Kultursektor betrafen. Vielerorts blieb ein Museumsbesuch auch dort noch möglich, wo Gastronomie und Sportanlagen zu schließen hatten.

Kulturpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip

Zwar obliegt die uneingeschränkte Kompetenz für Kulturpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip den Mitgliedstaaten. Aber weil der Europäischen Kommission nur ergänzende, unterstützende sowie koordinierende Kompetenzen zukommen, werden alle Hoffnungen auf ihre finanzpolitischen Instrumente gesetzt. Dabei ist vieles denkbar: Von der Erweiterung des Programms Creative Europe bis zur Ausverhandlung eines „Cultural Deal for Europe“.

Kultur- und Kreativsektor ist ein essenzieller Wirtschaftszweig in der EU.(c) Nicolas de stael

Kultur- und Kreativsektor ist ein essenzieller Wirtschaftszweig in der EU.

(c) Nicolas de stael

Der Kultursektor als integraler Bestandteil der europäischen Wirtschaft 

Der Kultur- und Kreativsektor ist ein essenzieller Wirtschaftszweig in der EU. Nach Angaben von Eurostat beschäftigte die europäische Branche im Jahr 2019 mehr als 7,4 Millionen Menschen in 27 Mitgliedstaaten, das macht mehr als 3,7 Prozent aller Arbeitsplätze aus. Im Jahr 2017 erwirtschaftete der Kultur- und Kreativsektor Sektor mehr als 145 Milliarden Euro Umsatz.

Zu Recht hat sich das Narrativ etabliert, dass der „Wirtschaftsstandort Europa“ vor allem in urbanen Regionen diesen Erfolg ihrer „creative class“ zu verdanken hat. Mit Blick auf die post-industrielle Gesellschaft wird die Bedeutung von kreativem Humanpotenzial zudem weiterwachsen.

Gleichzeitig droht die Pandemie den Kultur- und Kreativsektor nachhaltiger und tiefgreifender zu bedrohen als andere Wirtschaftszweige. Der Großteil des Sektors besteht aus Selbstständigen oder kleinen und mittleren Unternehmen, deren Einkommensquellen zwischen öffentlichen Subventionen, privaten Sponsoren und Mäzenen, publikumsabhängigen Einnahmen oder Urheberrechtsgebühren variieren. Viele dieser Strukturen fallen im Zuge der Pandemie weg.

Creative Europe als paneuropäischer Hoffnungsträger

Unter der Führung der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 haben die europäischen Kulturminister*innen in der ersten Hälfte des Jahres eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, um den Weg zu gemeinsamen europäischen Unterstützungsmaßnahmen in der Corona-Krise zu ebnen. Die deutsche Ratspräsidentschaft führte diese Initiative unter dem Motto Gemeinsam. Europa wieder stark machen weiter. Dazu gehörten auch die Verhandlungen über das Programm Creative Europe.

Nach einer vorläufigen Einigung zwischen den Staats- und Regierungschefs, dem EU-Parlament und der Europäischen Kommission soll Creative Europe in der Laufzeit 2021 bis 2027 mit einem Etat von 2,2 Milliarden Euro ausgestattet werden – das ist eine Erhöhung um fast ein Drittel des bisherigen Volumens.

Allerdings dämpft das weite Mandat des Programms die Zuversicht auf strukturelle Verbesserung: Creative Europe soll die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die Vernetzung und Bildung von Plattformen im Kultursektor, die Film-und Medienbranche sowie die internationale politische Zusammenarbeit inklusive der europäischen Bürgerschaft unterstützen.

(Zum Vergleich: Der Streaming-Dienstleister Netflix hat allein im Jahr 2018 mehr als 1,75 Milliarden Euro in die europäische Filmproduktion investiert.) 

Der bewegte Zustand der europäischen Integration bietet reichlich Nährboden für die künstlerische Auseinandersetzung: Was passiert, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten begegnen?(c) pawel-czerwinski, UNSPLASH

Der bewegte Zustand der europäischen Integration bietet reichlich Nährboden für die künstlerische Auseinandersetzung: Was passiert, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten begegnen?

(c) pawel-czerwinski, UNSPLASH

Dabei ist Kulturpolitik der Kleber im europäischen Integrationsprozess

Obwohl Creative Europe ein wichtiges Instrument für die europäische Kulturpolitik darstellt, stellt sich die Frage, welche anderen strategischen Maßnahmen greifen, um das Geflecht aus kulturellen Netzwerken vor dem Aus zu schützen. Denn ohne sie wird die politische innereuropäische Integration gebremst. „You cannot fall in love with a single market“, hat schon Gründervater Jacques Delors gesagt. Zwar haben die EU Institutionen (Parlament, Kommission oder Rat) nur begrenzte Kompetenzen in der Kulturpolitik, sie könnte aber in deren gemeinschaftsbildende Funktion stärker investieren. 

Kunst und Kultur verschreiben sich charakteristisch der Aufgabe, die Komplexität der gegenwärtigen globalen Welt aufzuzeigen und zu verdeutlichen. Sie schaffen Reflexionsräume, öffnen Horizonte, beleben Debatten. Der bewegte Zustand der europäischen Integration bietet reichlich Nährboden für die künstlerische Auseinandersetzung: Was passiert, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten begegnen? Wie beeinflussen und entwickeln wir uns angesichts der kulturellen Vielfalt? Welche Ängste entstehen bezüglich dieser Veränderungen? Wie sieht unser alltägliches Zusammenleben aus?

Auch wenn nationale Grenzen weiterhin das Streitobjekt für in Europa lebende Menschen ausmachen, sie sind und bleiben in europäische Zusammenhänge eingebunden. 

Europa durch strategische Kulturpolitik erlebbar machen

Diesen Punkt beschreiben auch die Kulturtheoretiker Sebastian Büttner und Steffen Mau in ihrem Essay Horizontale Europäisierung und Europäische Integration. „Der Umgang mit anderen Kulturen und Nationen verändert sich, Menschen lernen vermehrt Differenzen zu ertragen und zu überbrücken, sie werden insgesamt „fremdheitsfähiger“. Ungeachtet aller Konflikte, Enttäuschungen und Ängste, die mit dem europäischen Integrationsprozess einhergehen, kann die stärkere Eingebundenheit in paneuropäische Aktivitäten und Beziehungen eine Triebfeder für universelle und kosmopolitische Einstellungen sein.“ 

Was Künstler*innen mit ihrer intellektuellen Kulturarbeit leisten, ist daher nicht nur ein wirtschaftlicher Mehrwert; sie schaffen ein notwendiges und tragendes Instrument zur Entwicklung eines stabilen, friedlichen Europas, das auf Basis der europäischen Zivilgesellschaften funktioniert. „Es gibt keine Möglichkeit, das Gemeinwesen wirklich legitim zu machen, wenn es keine Grundlage in einer Identität hat, denn, wie die alten politischen Autoren zu sagen pflegten, kein Gesetz und keine Norm, nicht einmal die ausgeklügeltste, kann wirklich leben, wenn sie nicht in den Seelen der Bürger lebt“, schreibt auch Furio Cerutti in seinem Essayband “Brauchen die Europäer eine Identität. Politische und kulturelle Aspekte”.

Wirtschaftliche Wiederbelebung durch starke Kulturlandschaft

Eine zukunftsgerichtete, strategische Kulturpolitik der Europäischen Union ist also der Startpunkt, um globalen Herausforderungen zu begegnen, Unternehmer*innen und Zivilgesellschaft zu vernetzen, Wissen zu erlangen, und interkulturellen Dialog und Zusammenarbeit zu schaffen. Denn eine starke Kunst- und Kulturlandschaft ist nicht das Ergebnis einer ökonomischen und sozialen Wiederbelebung in Europa, sie ist ihre Bedingung! Die Europäische Union sollte sich dazu bewusst bekennen – mit der Erweiterung von Creative Europe, mit dem Bekenntnis zu einem Cultural Deal oder einem ganz anderen Instrument. Der kreativen Vorstellungskraft sollten schließlich keine Grenzen gesetzt sein.

Ana-Marija Cvitic ist Gründerin und Chefredakteurin von Béton Bleu Magazine. Dieser Beitrag ist zuerst auf www.polis180.org/polisblog erschienen.

 
 
 

Kick-off of the Béton Bleu essay series:

HOW STRATEGIC CULTURAL POLICY CAN FOSTER EUROPEAN INTEGRATION

The Covid-19 pandemic is plunging the cultural and creative scene in Europe into an existential crisis. This is the right moment for the European Union to act strategically - and invest in its cultural governance.

An essay by Ana-Marija Cvitic

Image via Théo Vardin, Oil Painting

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The political integration of the European Union is a cultural process, it takes place in the everyday day life – or at least this is a well-known narrative in cultural anthropology. In that sense, political integration means constant negotiations concerning basic ethical and aesthetic concepts of taste, norms, and historical consciousness. What this "Europeanisation of Everyday Life" actually means for the individuals and their cultural identiy is highly debated, above all by the cultural and creative scene itself.

Europe probably has never debated the role of art and culture in society with such force as it has during the Covid19 pandemic. Is culture "systemically essential"? Should cultural institutions be accessible even in a lockdown? Or does the state rather link them to the entertainment industry and thus make culture dispensable in times of crisis, as it is happening now?

Since the beginning of the COVID-19 pandemic, the 27 European member states found individual answers to these questions. States such as Bulgaria, the Netherlands, Italy, Spain, or Denmark differentiated between the measures affecting the cultural sector during the second Covid19 wave. In many places, a visit to a museum remained possible even where restaurants and sports facilities had to close.

Cultural policy according to the principle of subsidiarity

The competence for cultural policy lies within the member states, this states the principle of subsidiarity. The institutions of the EU have only supplementary, supporting and coordinating competences. All hopes for help and support are pinned on the financial policy instruments of the EU: The spectrum of financial possibilities remains broad, varying between the expansion of the Creative Europe programme, the establishment of a "Cultural Deal for Europe" or another programme.

The cultural and creative sector is an essential economic force in the EU.(c) Nicolas de stael

The cultural and creative sector is an essential economic force in the EU.

(c) Nicolas de stael

The cultural sector as an integral part of the European economy  

The cultural and creative sector is an essential economic force in the EU: According to Eurostat, the European sector employed in 2019 more than 7.4 million people in the 27 Member States. The culture and creative industries provide more than 3.7 per cent of all jobs in the EU and generated over €145 billion in turnover in 2017.

The narrative that Europe as a business location owes its success to the creative class, especially in urban regions, seems to be legitimate. In view of the development of the post-industrial society and digitalization, the importance of creative human potential will exponentially grow.

At the same time, the pandemic threatens the cultural and creative sector in its core: The majority of the sector is made up of self-employed people or small and medium-sized enterprises whose sources of income vary between public subsidies, private sponsors and patrons, audience-dependent income or copyright fees. Many of these structures fell away or threaten to fall away in the wake of the pandemic.

Creative Europe as a beacon of hope

Under the leadership of the Croatian EU Presidency in 2020, the European ministers of culture published a joint declaration in the first half of the year to pave the way for joint European support measures in the Corona crisis. The German Presidency continued this initiative, including negotiations on the Creative Europe programme.

Its outcome is surprising: According to a preliminary agreement between the heads of state and government, the EU Parliament and the European Commission, Creative Europe is to be given a budget of 2.2 billion euros for the period 2021 to 2027 – an increase of almost a third of the previous volume.

However, the programme's broad mandate dampens confidence in structural improvement: Creative Europe is intended to support cross-border cooperation, networking, and the creation of platforms in the cultural sector, the film and media industry, and international political cooperation, including European citizenship.

(By comparison, the streaming service provider Netflix invested more than 1.75 billion euros in European film production in 2018 alone).

Although Creative Europe remains an important instrument for European cultural policy, the question arises as to which other strategic measures would protect the meshwork of cultural networks from the brink of collapse. Without them, political intra-European integration will be slowed down. "You cannot fall in love with a single market", as founding father Jacques Delors once said. The EU institutions (Parliament, Commission and Council) should use the power they have and invest more in its community-building function: The creative sector.

The turbulent state of European integration provides fertile ground for artistic debate: What happens when people with different horizons of experience meet?(c) pawel-czerwinski, UNSPLASH

The turbulent state of European integration provides fertile ground for artistic debate: What happens when people with different horizons of experience meet?

(c) pawel-czerwinski, UNSPLASH

Cultural policy is the glue in the European integration process

Art and culture are characteristically dedicated to highlight and clarify the complexity of the contemporary global world. They create spaces for reflection, open horizons, enliven debates. The turbulent state of European integration provides fertile ground for artistic debate: What happens when people with different horizons of experience meet? How do we influence and develop in the face of cultural diversity? What fears arise with regard to these changes? What does our everyday coexistence look like? Even if national borders continue to be the object of contention for people living in Europe, they are and will remain embedded in European contexts.

The cultural theorists Sebastian Büttner and Steffen Mau discuss this point in their essay “Horizontal Europeanisation and European Integration”: "The way we deal with other cultures and nations is changing, people are increasingly learning to tolerate and bridge differences, they are becoming more ‘capable of foreignness’. Notwithstanding all the conflicts, disappointments and fears associated with the European integration process, greater involvement in pan-European activities and relations can be a driver of universal and cosmopolitan attitudes."

What artists do with their intellectual cultural work is not only an economic added value; they create a necessary and supporting instrument for the development of a stable, peaceful Europe that functions on the basis of European civil societies. "There is no way to make the polity truly legitimate if it has no basis in an identity, because, as the old political writers used to say, no law and no norm, not even the most sophisticated, can truly live if it does not live in the souls of the citizens," writes Furio Cerutti in his volume of essays “Do Europeans Need an Identity. Political and Cultural Aspects”.

Making European politics tangible through culture

A forward-looking, strategic cultural policy of the European Union is thus the starting point for meeting global challenges, networking entrepreneurs and civil society, acquiring knowledge, and creating intercultural dialogue and cooperation. A strong artistic and cultural landscape is not the result of an economic and social revival in Europe, it is its condition! The European Union should make a conscious commitment to this – with the expansion of Creative Europe, with a commitment to a Cultural Deal or a completely different instrument. After all, there shouldn’t be limits to creative imagination.

Ana-Marija Cvitic is the Founder & Editor-In-Chief of Béton Bleu. This text was previously published on www.polis180.org/polisblog