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“Selbst wenn nur ein paar MitgliedS-staaten Schritte in Richtung Gleichstellung unternehmen, WAR DIE LGBTIQ-strategie EIN ERFOLG”- Alina Tryfonidou

© Karol Radziszewski

2020 war ein schwieriges Jahr für die LGBTIQ-Community in der Europäischen Union. Gleich mehrere Staaten haben ihre Rechte weiter beschnitten oder Diskriminierung Vorschub geleistet. Doch es gab auch Lichtblicke. Im November veröffentlichte die Europäische Kommission die erste offizielle LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie, die eine Reihe von Maßnahmen zur Verankerung der Gleichstellung in allen Politikbereichen der EU vorsieht. Beton Bleu sprach mit Alina Tryfonidou, Rechtsprofessorin an der University of Reading School of Law in Großbritannien, über den rechtlichen Hintergrund der LGBTIQ-Strategie in der EU und die Frage, warum der Kampf für Menschenrechte gerade auf dem alten Kontinent ein heikler Balanceakt ist.


Béton Bleu: Im November veröffentlichte die Europäische Union eine LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie. Das Programm adressiert Ungleichheiten und Herausforderungen und legt eine Reihe von Maßnahmen für die nächsten fünf Jahre fest. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass mehrere Staaten, darunter Polen und Ungarn, LGBTIQ-Gruppen immer wieder attackieren und ihre Rechte einschränken. Welche Auswirkungen wird das EU-Strategiepapier haben?

Alina Tryfonidou: Tatsächlich ist es das erste Mal, dass die EU eine sogenannte "Strategie" zur LGBTIQ-Gleichstellung veröffentlicht. Das ist wichtig, weil sie symbolisch zeigt, dass die EU ihre Rechte auf die gleiche Ebene wie die Rechte anderer Minderheiten stellt. Es gab schon 2015 ein Dokument, die "Liste der Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von LGBTI-Minderheiten", aber dieses Papier war weniger ehrgeizig und das Wort "Strategie" wurde nicht verwendet. Die Bezeichnung "Strategie" wird in der EU nur für Dokumente verwendet, die politische Ziele und Maßnahmen und deren Umsetzung klar definieren. Das neue Dokument wird also ganz bewusst auf eine Stufe mit ähnlichen Dokumenten gestellt, die darauf abzielen, die Gleichstellung bestimmter Personengruppen zu fördern.

BB: Trotzdem scheint das Papier an vielen Stellen vage zu bleiben, zum Beispiel wenn es darum geht, konkrete Schritte zu unternehmen. Wie weit geht es wirklich?

AT: Das ist wahr, die LGBTIQ-Strategie ist nicht sonderlich spezifisch. Es beschreibt eher allgemein, wie der Plan der Kommission in Bezug auf LGBTIQ-Rechte in den nächsten fünf Jahren aussieht. Die Kommission kündigt zum Beispiel eine Gesetzgebung an, um die Anerkennung von elterlichen Rechten sicherzustellen, aber geht nicht weiter ins Detail. Meiner Meinung nach enthält das Papier jedoch durchaus einige konkrete Pläne, etwa in Bezug auf Hassverbrechen und Hassreden. Aber es lässt bewusst Spielraum, um Themen wie diese auf diplomatische Art und Weise zu behandeln, ohne die Mitgliedstaaten unter direkten Zugzwang zu setzen. Die Kommission ist sich bewusst, dass die EU schlicht nicht das Mandat besitzt, alles umzusetzen. Aber sie drängt die Mitgliedstaaten zumindest dazu zusammenzuarbeiten: Ein Bereich, in dem die EU keine Kompetenzen hat, ist zum Beispiel Bildung. Sie kann den Mitgliedstaaten zwar nicht vorschreiben, was sie in den Schulen unterrichten sollen. Aber trotzdem heißt es in der Strategie, die Mitgliedstaaten sollten zusammenarbeiten,voneinander lernen und sicherzustellen, dass Bildung inklusiv ist.

© Alina Tryfonidou

© Alina Tryfonidou

BB: Halten Sie die LGBTIQ-Strategie also für einen Erfolg?

AT: Ich denke, sie ist so gut, wie sie eben sein kann. Die Strategie ist gut ausbalanciert, weil sie keine unrealistischen Annahmen macht; sie ist ehrgeizig, aber nicht übermäßig ambitioniert. Und sie berücksichtigt, dass die EU eben nur eine begrenzte Macht hat, wenn es um dieses Thema geht. Aber gleichzeitig zeigt die Kommission, dass sie konkrete Schritte unternehmen will; vor allem bei Themen, die aus der Sicht einiger Mitgliedstaaten durchaus sehr umstritten sind. Die Kommission plant zum Beispiel eine Gesetzgebung, die die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Eltern-Kind-Beziehung auch dann anzuerkennen, wenn Familien über Grenzen hinweg umziehen. Das ist zwar keine Maßnahme, die speziell auf "Regenbogenfamilien" zugeschnitten ist, aber sie ist eben von besonderer Bedeutung für diese Familien, weil sie in der Regel diejenigen sind, die bei einem Umzug in ein anderes Land ihren Status oft verlieren.

BB: Wo greift die Strategie zu kurz?

AT: Als ich das Dokument zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich, ok, es adressiert zwar Elternrechte und hat einen klaren Plan für eine Gesetzgebung, aber was ist mit gleichgeschlechtlichen Paaren, die keine Kinder haben? Werden sie auch anerkannt, wenn sie zwischen den Mitgliedstaaten umziehen? Viele Fragen bleiben ungelöst, vieles muss noch geklärt werden. Ich persönlich hätte gerne konkretere Maßnahmen gesehen, die auch gleichgeschlechtlichen Paaren, die zwischen Mitgliedstaaten umziehen, mehr Sicherheit geben; nicht nur in Bezug auf das Recht auf Familienzusammenführung, sondern auch in Bezug auf andere Angelegenheiten. Wird zum Beispiel ein gleichgeschlechtliches Paar, das in einem Mitgliedstaat geheiratet hat, bei allen rechtlichen Fragen wie Rente oder Steuern als verheiratet anerkannt, wenn es in einen anderen Mitgliedstaat zieht? Darauf gibt auch die Kommission keine Antwort.

© Photo by Massimo Rinaldi on Unsplash

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BB: Weshalb unternimmt die EU diesen Schritt erst jetzt?

AT: Die EU wurde zwar auf den Grundwerten der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit gegründet. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht vergessen, dass die EU, obwohl sie diese Prinzipien schätzt und an sie gebunden ist, keine Menschenrechtsorganisation ist. Die EU ist nicht der Europarat, der eigens gegründet wurde, um die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte in Europa zu sichern und zu diesem Zweck auch die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet hat. Die EU verfolgte zunächst rein wirtschaftliche Ziele und sollte den Frieden in Europa sichern. In den EU-Verträgen gab es keinen Hinweis auf Menschenrechte, weil man die spätere Europäische Union als eine Wirtschaftsorganisation betrachtete. Man sah also gar keine Gefahr, dass die EU-Institutionen bei der Ausübung ihrer Befugnisse die Menschenrechte verletzen könnten. Das änderte sich erst, als der Europäische Gerichtshof, das oberste Gericht der EU, 1969 entschied, dass die grundlegenden Menschenrechte Teil der allgemeinen Prinzipien des EU-Rechts sind - ein Schritt, der 1993 im Vertrag von Maastricht konsolidiert wurde. Mit ihm wurde dannauch die Unionsbürgerschaft eingeführt. Damit war klar, dass die EU nicht mehr nur eine Wirtschaftsorganisation war.

BB: Ein Schritt wie die Strategie ist also auch eine Anerkennung seitens der EU, dass man Menschenrechte nicht von wirtschaftlichen Fragen trennen kann?

AT: Genau. Die EU scheint zu erkennen, dass man wirtschaftliche Ziele nicht mehr einfach isoliert von anderen Fragen betrachten kann. Die Strategie ist eine Fortsetzung dessen, was 1993 angestoßen wurde. Als die EU 1993 zusätzliche Zuständigkeiten erhielt, die nicht rein wirtschaftlicher Natur waren, war den Verantwortlichen klar, dass sie nicht mehr sagen können, “ich kümmere mich nur um wirtschaftliche Ziele und ignoriere alles andere". Vielmehr war nun offiziell, dass jede Maßnahme, die die EU im wirtschaftlichen Bereich umsetzt, Auswirkungen auf andere, nicht-wirtschaftliche Bereiche haben kann. Aber das sollte uns natürlich nicht zu der Annahme verleiten, dass die EU dadurch plötzlich eine Menschenrechtsorganisation ist. Ja, Menschenrechte, einschließlich der LGBTIQ-Rechte, sind Teil der Werte, die die EU sichern will. Und die Länder, die der EU beitreten wollen, müssen sich an diese Werte halten. Aber es ist auch heute noch so, dass die EU keine Gesetzgebung gestalten kann, die ausschließlich den Schutz der Menschenrechte zum Ziel hat. Dazu fehlt ihr schlicht das Mandat. Da die grundlegenden Menschenrechte zu den Werten gehören, auf die sich die EU gründet, sind sie aber als allgemeine Grundsätze des EU-Rechts und als Teil der EU-Grundrechtecharta verbindlich, so dass die Handlungen der EU-Institutionen nicht zu Menschenrechtsverletzungen führen dürfen.

© Photo by Mercedes Mehling on Unsplash

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BB: Die Mechanismen, die es gibt, um Menschenrechte zu schützen, scheinen bei Mitgliedstaaten, die diese grundlegende Vereinbarung verletzen, zu kurz zu greifen.

AT: Das stimmt. Wenn Länder erst einmal der EU beigetreten und somit EU-Mitglieder sind, kann die EU nicht viel tun, wenn sie die Menschenrechte nicht einhalten. Der wichtigste Mechanismus, den es derzeit gibt, ist Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union. Der erfordert allerdings Einstimmigkeit im Europäischen Rat, der feststellen muss, dass ein Mitgliedstaat die in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union genannten Werte, zu denen auch die Menschenrechte gehören, ernsthaft und anhaltend verletzt hat. Stellt der Rat das fest, kann dem betroffenen Mitgliedstaat angedroht werden, bestimmte Rechte, die sich für ihn aus den Verträgen ergeben, vorübergehend zu verlieren. Wenn aber ein zweiter Mitgliedstaat auf ähnliche Weise bestimmte Menschenrechte verletzt - wie im Fall von Polen und Ungarn -, dann führt dieser Mechanismus ins Leere, weil der zweite Mitgliedstaat sein Vetorecht ausüben kann, um genau das zu verhindern.

BB: Es gibt das Argument, dass die EU zurückhaltend sein sollte und nicht zu viel Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben sollte, wenn es um Themen wie LGBTIQ-Rechte geht, weil sie eine Art Backlash in diesen Staaten riskieren könnte und die dortige Regierung dies als Argument gegen eine EU verwenden könnte, die in ihren Augen versucht, ihnen ihre Ansichten aufzuzwingen. Was halten Sie von dieser Argumentation?

AT: Selbst wenn wir die praktischen Aspekte vergessen - also die begrenzten Mittel, die der EU zur Verfügung stehen, um auf Verletzungen von LGBTIQ-Rechten zu reagieren, und die Grenzen ihrer Zuständigkeit - müssen wir bedenken, dass diese Themen sehr sensibel sind. Wenn die EU den Mitgliedstaaten sagt, dass sie ihre Gesetze ändern müssen, um gleichgeschlechtlichen Paaren die Eheschließung zu ermöglichen, wäre das äußerst problematisch. Erstens, weil die EU gar nicht die entsprechenden Kompetenzen hat, aber auch, weil dies eine Angelegenheit ist, die aus Sicht der Mitgliedstaaten sehr umstritten ist. Es berührt Fragen der Menschenrechte, aber auch der Religion, der Moral und der Tradition. Im Moment mag es nur eine handvoll Mitgliedstaaten geben, die übermäßig problematische Gesetze oder Ansichten in Bezug auf LGBTIQ-Rechte haben. Wenn die EU aber eine härtere Haltung einnimmt und beschließt, von allen EU-Mitgliedstaaten Schritte zu verlangen, zu denen sie noch nicht bereit sind, zum Beispiel die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, dann kann dies zu einer Gegenreaktion führen, z. B. könnten einige Mitgliedstaaten aus Protest ein verfassungsrechtliches Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe einführen.

© “Detention of Margot” / Karol Radziszewski

© “Detention of Margot” / Karol Radziszewski

BB: Ist es also klüger für die EU, nichts zu tun?

AT: Das ist eine schwierige Frage. Die Verletzung von LGBTIQ-Rechten ist eine klare Verletzung der Menschenrechte. Ich vermute, die EU hofft darauf, dass im Zweifel der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte handelt, schließlich ist die Europäische Menschenrechtskonvention eindeutig ein Menschenrechtsinstrument ist. Es ist seine Aufgabe, die Menschenrechte zu schützen. Wenn es also jemanden gibt, der von den Mitgliedstaaten verlangen kann, Schritte zum Schutz von LGBTIQ-Personen zu unternehmen, dann ist es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Wir müssen aber bedenken, dass der Europarat - die Organisation, die die Europäische Menschenrechtskonvention eingeführt hat - eine regionale Menschenrechtsorganisation ist, die mehr Mitgliedstaaten hat als die EU. Daher gibt es eine noch größere Vielfalt an Ansichten und Meinungen als in der EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten. Daher wäre es für den EGMR schwierig, eine sehr harte Haltung zum Schutz der LGBTI-Rechte einzunehmen. Sowohl die EU als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befinden sich also in einer Position, in der sie, selbst wenn sie weitere Schritte unternehmen wollen, mit der Möglichkeit eines Backlashs konfrontiert sind und ihnen vorgeworfen werden kann, die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten nicht zu respektieren.

BB: Was es wahrscheinlich schwierig macht, irgendwelche Änderungen wirklich durchzusetzen.

AT: Richtig. Die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Maßnahmen der EU hängen beide hauptsächlich vom guten Willen der Mitgliedstaaten ab. Sowohl die EU als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte versuchen deshalb, solche Maßnahmen zu ergreifen, bei denen sie das Gefühl haben, dass sie auch eine Chance haben, vor Ort umgesetzt zu werden. Sie wollen die Mitgliedstaaten auf ihrer Seite wissen. Mit anderen Worten, die EU überlegt sich sehr genau, welche Kämpfe sie ausfechten will.

BB: Wenn wir das europäische Projekt ernst nehmen und uns darauf einigen, dass es bestimmte Werte gibt, die wir für nicht verhandelbar halten, gäbe es dann die Möglichkeit zu sagen: Wir ziehen eine klare Grenze, und wenn ein Mitgliedstaat diese überschreitet, sollte er die EU verlassen?

AT: Ich glaube nicht, dass die EU zu irgendeinem Zeitpunkt eine so harte Haltung einnehmen möchte. Der Brexit war nicht umsonst das erste Mal, dass die EU in ihrer Geschichte mit dem Austritt eines Mitgliedslandes konfrontiert war. Selbst wenn die EU diese Haltung einnimmt, kann sie einen Mitgliedstaat gar nicht aus eigener Kraft ausschließen. Sollte ein Mitgliedstaat sich weigern die Union zu verlassen, nachdem er dazu aufgefordert wurde, wäre das für die EU sehr peinlich. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten gesehen, wie die EU versucht hat, andere Wege zu finden, um die Einhaltung von Gesetzen zu erzwingen, indem sie etwa Finanzmittel an die Einhaltung von Gesetzen und den Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit bindet.

BB: Wenn man mit LGBTIQ-Menschen in Polen oder Frauen in Ungarn spricht, haben viele das Gefühl, dass die EU nicht genug tut.

AT: Ich kann verstehen, dass sie enttäuscht sind, aber wir müssen bedenken, dass die EU nur das tun kann, was ihr die Verträge erlauben. Es gibt einfach klare Grenzen in Bezug auf das, was sie tun kann. Die EU will sich nicht vorwerfen lassen, dass sie ihre Befugnisse missbraucht, denn dann würde sie gegen ihre eigenen Werte und die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Eines der Argumente, die während der Brexit-Kampagne gegen die EU vorgebracht wurden, war, dass Großbritannien die Kontrolle zurückgewinnen wollte. Diese Argumente hört man auch in anderen Mitgliedstaaten. In Großbritannien war das Thema eher die Einwanderung. In anderen Staaten könnten die LGBTIQ-Rechte eines der Hauptthemen sein. Die EU ist durch den Brexit, aber auch durch die wirtschaftliche Situation wegen Covid-19 zurzeit ohnehin sehr verwundbar. Unter solchen Umständen suchen viele nach einem Sündenbock, und ein einfacher Sündenbock ist immer die EU. Das will sie um jeden Preis verhindern.

BB: Müssen wir unsere Erwartungen in Bezug auf das, was die EU tun kann, herunterschrauben? Ist es auch eine Frage der Kommunikation, um den Bürgern die bestehenden Grenzen besser zu vermitteln und so zu verhindern, dass sie regelmäßig enttäuscht werden?

AT: Ja, es besteht definitiv die Notwendigkeit, Erwartungen herunterzuschrauben. Es gibt ein häufiges Missverständnis, die Leute sprechen oft von "Europa", ohne zwischen der EU und dem Europarat oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterscheiden. Das passiert sogar bei großen Zeitungen und Jurastudenten. Sie haben diese falsche Vorstellung, dass es der EU hauptsächlich um den Schutz von Menschenrechten geht, was falsch ist. Auch die LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie der Kommission sagt immer wieder, dass die EU nicht die Kompetenzen hat, um in bestimmten Bereichen zu handeln. Deshalb wird in der Strategie lediglich darauf hingewiesen, dass die Kommission die Mitgliedstaaten dabei unterstützen wird, bestimmte Dinge zu erreichen - z.B. nationale Pläne zur LGBTIQ-Gleichstellung zu entwickeln - oder bewährte Verfahren miteinander zu teilen - z.B. zur Gewährleistung einer sicheren und inklusiven Bildung für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Ich bin sicher, dass NGOs und Anwälte, die die Strategie gelesen und analysiert haben und sich der Grenzen dessen bewusst sind, was die EU tun kann, erkennen können, dass es ein positiver Schritt nach vorne ist. Der Durchschnittsbürger, der nicht weiß, worum es bei der EU geht und wie sie funktioniert und der sich der Grenzen ihrer Kompetenzen nicht bewusst ist, wird aber von der Strategie zwangsläufig enttäuscht sein.

BB: Sollten wir den kleinen Fortschritt, den es gibt, also lieber feiern?

AT: Das sollten wir! Selbst wenn zum Beispiel nur ein paar Mitgliedstaaten Schritte in Richtung Gleichstellung unternehmen, ist das wichtig und relevant, weil sich das Gleichgewicht in der Union verschiebt. Derzeit ist die Mehrheit der LGBTIQ-freundlichen Mitgliedstaaten west- und nordeuropäische Staaten. Wenn wir zusätzlich ein paar der südlichen oder östlichen Mitgliedstaaten dazu bringen, zumindest einige Schritte in Richtung einer LGBTIQ-inklusiven Politik zu unternehmen, dann werden die übrigen Mitgliedstaaten unter Zugzwang kommen. Ein sehr gutes Beispiel für einen Mitgliedstaat, der sich in Bezug auf seine Einstellung zu LGBTIQ-Rechten sehr verändert hat, ist Malta. Malta ist ein kleines, katholisches Land und man würde erwarten, dass es sehr traditionelle Ansichten zur Familie und zu LGBTIQ-Rechten hat. Aber in den letzten Jahren landet Malta immer wieder an der Spitze der “Rainbow”-Liste der Bürgerrechtsorganisation ILGA-Europe, die die Politik europäischer Länder in Bezug auf ihre Behandlung von LGBTIQ-Menschen bewertet. Es ist also immer möglich, dass es zu positiven Überraschungen kommt, wenn die Voraussetzungen in den Mitgliedstaaten stimmen.

Interview: Thorsten Schröder

Über Alina Tryfonidou:

Alina Tryfonidou ist Professorin für Recht an der University of Reading. Sie begann ihre akademische Karriere 2007 als Dozentin für Recht an der University of Leicester. Anschließend kam sie im September 2011 als Lecturer in Law an die University of Reading und wurde 2013 zur Associate Professor in EU-Recht und 2018 zur Professorin für Recht befördert. Professor Tryfonidou's Hauptforschungsinteressen liegen im EU-Recht und dem Schutz von LGBT+ Rechten. Sie ist eine häufige Rednerin auf internationalen Konferenzen und sprach vor Ausschüssen des Europäischen Parlaments. Neben Monographien, Kapiteln in Sammelbänden, Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften und Online-Blogbeiträgen steuerte Alina Tryfonidou Kapitel in Berichten und Studien im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Europäischen Kommission bei. Darüber hinaus ist sie Mitautorin eines Berichts über Hindernisse für die Freizügigkeitsrechte von Regenbogenfamilien in der EU, der vom PETI-Ausschuss des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben wurde, und sie hat zwei Forschungsberichte für NELFA geschrieben. Ihre Arbeit wurde von mehreren Generalanwälten vor dem Europäischen Gerichtshof zitiert.

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(C) 29/01/2021

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